Reh

Und da war noch …

... die Sache mit dem Reh

Ein Beitrag unserer Kolumnistin C. Eißing

Vor einigen Wochen erreichten mich per WhatsApp ein paar Fotos, die mich verblüfften. Eine Reh ... mitten in einem Privatgarten in Wickrathberg. Zu­ge­ge­be­ner­maßen ein sehr schöner Gar­ten mit offenen Zugang zu einem kaum be­nutz­ten Pfad hinter Nach­bar­gär­ten.
Dem Reh schien es so gut zu gefallen, dass es von nun an täglich auftauchte, gleichgültig, ob die Besitzer gerade am Früh­stücks­tisch draußen saßen oder sich in normaler Laut­stär­ke un­ter­hiel­ten. Die Vogeltränke wurde auf­ge­sucht und Kirsch­baum­blät­ter, aber auch Ro­sen, wer hätte das gedacht, wurden of­fen­sicht­lich gern geknabbert. Und die Kräu­ter­töpfe am Grillplatz des Nach­barn wurden ebenfalls nicht ver­schmäht.
Keinerlei Scheu – das ist au­ßer­ge­wöhn­lich. Und gibt zu denken ...

Gibt es auf den Feldern nicht genug Futter? Ist es eine angeborene Neugier, die Rehe zu solchen Wagnissen ver­an­lasst? Sind Wildtiere inzwischen so an Menschen gewöhnt, dass der ur­sprüng­li­che Fluchtgedanke nicht mehr greift? Und was hat das für Kon­se­quen­zen?

Für die Beantwortung dieser Fragen stand mir dankens­werter­weise ein Förs­ter aus der herrlichen Lüneburger Heide in einem ausführlichen Telefonat zur Verfügung.
Für ihn ist diese Entwicklung, nämlich dass immer mehr Wildtiere in die Städte einwandern, nichts Neues und durchaus erklärbar. Wildschweine, Füchse, Mar­der, Waschbären und auch Rehe wer­den durch das immerwährende Nah­rungs­an­ge­bot angelockt. O-Ton: 'Eine Müllkippe oder ein Mülleimer ist für Wildtiere wie ein Besuch im Res­tau­rant …'. Durch di­rek­tes oder indirektes Füttern lernen die Wildtiere, ihren Hunger zum Großteil in der Stadt und durch den Menschen zu stillen. So verlieren sie ihre angeborene Scheu und können ziemlich dreist wer­den. Den­noch dürfen Wildtiere, gleich wel­cher Art, im Stadtgebiet nicht bejagt werden. Um keine un­will­kom­me­nen Besucher anzulocken, soll­ten Gär­ten und Komposthaufen für sie un­zu­gäng­lich sein. Auch Mülltonnen wer­den bes­ser erst kurz vor dem Leeren hi­naus­ge­stellt. Wer Hunde oder Katzen drau­ßen füttert, stellt den Napf am bes­ten an einen Ort, der für Wildtiere nicht zu erreichen ist. Wichtig bleibt es natürlich, dass alle Spaziergänger ihre Hun­de generell anleinen.

In seinem interessanten Buch 'Tiere in der Stadt' beschreibt Bernhard Kegel die erstaunliche und immer weiter zu­neh­men­de Vielfalt der Tierarten, die es in die Nähe der Menschen zieht.
Füchse ziehen ihre Jungen seelenruhig vor den Augen der Spaziergänger in Parks groß, Wildschweine laufen am helllichten Tage mit ihrem Nachwuchs durch Kleingärten, Waschbären ziehen im Gartenhäuschen ein, Biber hausen im Düsseldorfer Stadtgraben an der Kö und Wanderfalken nisten am Kölner Dom.
Eine eigene Wis­sen­schafts­dis­zi­plin, Stadt­öko­lo­gie genannt, beschäftigt sich mit der Tatsache, dass sich eine Um­kehr vollzogen hat: Auf dem Land ver­kom­men ehemals fruchtbare und lebensfreundliche Flächen durch die industrielle Landwirtschaft mit ihren giftigen Spritzmitteln, intensiver Düng­ung und Monokulturen zu re­gel­rech­ten Agrarwüsten. Da werden so­gar Groß­städte wie Berlin und Ham­burg zu Ret­tungs­inseln der Ar­ten­viel­falt, die Le­bens­raum für un­zäh­li­ge Tierarten bie­ten, die sonst vom Aussterben be­droht sind.

In unserer Hauptstadt Berlin brüten über 150 Vogelarten – das sind zwei Drittel aller Vogelarten, die in Mitteleuropa zwischen Nord- und Ostsee und den Alpen vorkommen. In Köln sind mit bis zu 1150 Brutpaaren pro Qua­drat­ki­lo­meter die bislang dichtesten Brut­vo­gel­be­stände überhaupt nach­ge­wie­sen wor­den. Und wie könnte man die nütz­li­chen dämme­rungs­ak­ti­ven Fle­der­mäuse in den Gärten und Parks ver­ges­sen.

Alle Wissenschaftler prognostizieren einheitlich: Die Zahl der Tiere in den Städten wird in Zukunft noch zu­neh­men. Denn hier geht es vielen mitt­ler­wei­le besser als auf dem Land, wo Monokulturen vorherrschen, die Fel­der überdüngt sind und mit schwe­rem Gerät die Lebensräume zer­stört werden. Für Wildtiere bleibt dort des­halb erheblich weniger Nahrung. Zu­dem zer­glie­dern Autobahnen und Bahn­strecken die Land­schaft und ver­klei­nern weiterhin das Gebiet der Nah­rungs­suche dras­tisch.

Die Stadt dagegen ist vielfältig und hat den Wildtieren nicht nur in puncto Nah­rungs­suche viel zu bieten, sondern auch bei den Unter­kunfts­mög­lich­keiten. In Parks, Häusern, verlassenen Fa­brik­ge­län­den, stillgelegten Bahnhöfen und auf Brachen gibt es Nischen zum Le­ben, die sogar sicherer sind als die freie Wildbahn. Das meist trockene und wärmere Klima hält die Tiere zusätzlich in der Stadt, wo auch für die nächste Generation wieder gut gesorgt ist.
Sie alle werden zu sogenannten Kul­tur­folgern: Sie leben ganz nah am Men­schen und profitieren davon.

Das Leben in der Stadt unterscheidet sich grundlegend vom Leben auf dem Land – und das hinterlässt Spuren. Die Tiere reagieren sensibel auf ihre Um­ge­bung, sie verändern sich und ver­lie­ren ihre natürliche Scheu. Für die zweite Generation ist eine Rückkehr in die Wildnis kaum mehr möglich. Denn die Tiere kennen nur noch das Leben in der Stadt und würden in anderer Umgebung, auch bedingt durch ihre natürlichen Fressfeinde, nicht über­le­ben. Dies haben Biologen durch zahlreiche Aufzeichnungen mit GPS-Sendern ein­deutig bewiesen. Auch Vögel ver­än­dern ihr Verhalten: sie singen in der Stadt lauter und schriller, um über den Stadtlärm hinweg gehört zu wer­den. Rotkehlchen werden nachtaktiv, und Stare und Amseln zwitschern plötzlich Handymelodien.

Wenn wir es schon versäumt haben unser eigenes Konsumverhalten zu än­dern, sollten wir wenigstens die er­staun­li­che Flexibilität der Tiere be­wun­dern und vielleicht sogar von ih­nen lernen … und damit meine ich nicht das Trillern einer Handymelodie ….

Unsere Kolumnistin

Claudia Eißing


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